Aus der Geschichte des Dorfes

Harle

in Hessen/Deutschland

von
Hans-Helmar Auel
Pfarrer in Harle

November 2000

English version
Die Anfänge des Ortes Harle, der - am Ostrand der Wabernschen Ebene gelegen - sich an den Harler Berg anschmiegt, verlieren sich im Dunkeln der Geschichte. Scherbenfunde am "Alten Kirchhof" unterhalb des Wasserbassins öffnen sind ein Hinweis auf eine Besiedlung vor dem 10. Jahrhundert. Auf eine noch frühere Besiedlung weist das Steinbeil hin, das auf dem "Alten Kirchhof" nordöstlich von Harle gefunden wurde, 470 Gramm schwer ist und sich jetzt im Landesmuseum in Kassel befindet. In die gleiche Zeit zurück führt uns die Sprachforschung, denn Namen sind mehr als Schall und Rauch. Danach muss Harle vor dem 5. Jahrhundert entstanden sein, lässt sich doch der Name Harle ableiten von einem germanischen Wort har, das so viel wie spitz, hoch, erhaben bedeutet. Dann wäre also unser Dorf benannt nach dem Basaltfelsen, der aus der Ebene etwa 12 Meter aufragt. Wegen seiner Auffälligkeit in der Landschaft wurde er wohl von unseren Ahnen, dem germanischen Stamm der Chatten (und davor von den Kelten) als Kultplatz genutzt. In die gleiche Richtung weisen archäologische Untersuchungen in der Harler Kirche. Sie förderten zwei Artefakte aus der Zeit vor Christi Geburt ans Tageslicht. Noch erstaunlicher sind die Ergebnisse, die Hans-Winfried Auel herausfand. Demnach ist es wahrscheinlich, dass dieser Fels ein germanisches Sonnenheiligtum war, dem Gott Odin geweiht und auf den Heiligenberg bei Gensungen weisend: In der kürzesten Nacht geht - nur von dem Harler Felsen zu sehen - die Sonne genau am Fußpunkt des Heiligenberges auf, wandert - immer mehr sichtbar werdend - an seiner Flanke empor und steht wie eine Krone voll in majestätischem Glanz über dem Berg. Noch erstaunlicher ist, dass in der germanischen Religion der Gott Odin u.a. den Namen Har trug, was so viel wie der Höchste, der Erhabene bedeutet. Daher also könnte Harle seinen Namen haben. Wir haben demnach mitten in Harle einen alten heiligen Ort. Und es ist kein Wunder, dass bei der Christianisierung des Chattenlandes die Kirche eben über diesen alten heiligen Felsen gebaut wurde, gemäß der Aussage Jesu im Matthäusevangelium: Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen (Mt 16,18). Im ehemaligen Ossuarium, dem alten Beinhaus unter dem Altarraum, ist bis heute der Fels zu sehen, auf dem unsere Kirche steht.

Zum ersten Male urkundlich erwähnt wird Harle im Jahre 1196. Das Urkundenarchiv des westfälischen Klosters Hardehausen verzeichnet Landbesitz in Harleve. Nach einer anderen Lesart soll der Ort Hurlere geheißen haben. Hilfreich wäre eine erneute Untersuchung dieser alten Urkunde. Das Urkundenarchiv des Klosters Breitenau verzeichnet 1253 Besitz in Harlon, in Altenburger Urkunden aus dem Jahre 1404 wird unser Ort Horlan genannt, und in den Felsberger Salbüchern von 1555 erscheint zum ersten mal der Ortsname Harle. Das Urkundenarchiv von Holzheim erwähnt im Jahre 1358, dass Harle ein landgräflicher Ort war, der 1380 ein besonderes Gericht bildete, im Jahre 1404 mit dem Hause Altenburg verpfändet wurde und im 16. Jahrhundert zum Amt Felsberg gehört.

Das älteste noch vorhandene Gebäude ist die Kirche. Sie wurde zwischen 1200 und 1250 (andere meinen um 1370) auf dem alten heiligen Felsen als Wehrkirche erbaut, die von einer festen hohen Mauer umgeben ist, deren Reste noch von der Mächtigkeit der Anlage künden. Das Eingangstor - umgeben von einer hohen Mauer - war da, wo noch heute der Aufgang zum Kirchhof ist. Den Turm zierte ein kleiner Helm, dessen Wasser auf den Wehrgang floss und von dort in vier steinernen Wasserspeiern nach außen abgeführt wurde. Wasserführung und Abfluss sind noch heute zu sehen. Gekrönt wurde der Turm von Zinnen, die baulich verändert wurden, als im 16. Jahrhundert um 1525 der spitze Turm mit seinen vier kleinen Türmchen auf das Mauerwerk gesetzt wurde. Der Kirchhof diente bis in die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts als Friedhof. Die Wehrkirche hinter den hohen Mauern war für die Harler eine Stätte des Gebetes und zugleich ein Zufluchtsort bei Bedrohungen. Diese entstanden den Einwohnern des Dorfes in der Hauptsache durch Streitigkeiten zwischen dem hessischen Landgrafen und dem Mainzer Erzbischof, zu dessen Besitz Fritzlar zählte.

Die Wehrkirche bestand aus einem 20m hohen Turm aus Stein (Basalt und Buntsandstein) und einem Kirchenschiff. Dessen Grundmauern sind bei den archäologischen Untersuchungen gefunden worden. Es endete dort, wo die Altarstufen sind. Der alte, einzige Zugang zu dieser Wehrkirche ist jetzt zugemauert. Noch heute ist an seiner rechten Außenseite das alte Weihwasserbecken zu sehen. Es zeugt davon, was ein Mensch tut, der einen heiligen Ort betritt: Mit geweihtem Wasser bekreuzigt er sich und stellt sich unter den Schutz Gottes, in dessen machtvollen Bereich er eintritt. Etwas von dieser Ehrfurcht beim Betreten eines heiligen Ortes erspürt jeder bis auf den heutigen Tag. Leider hat der Zahn der Zeit an den Verzierungen des Weihwasserbeckens genagt. Im Gewölbe des Wehrturms wurden zwei Steine mit je einem Loch entdeckt. Durch diese Löcher führten einst die Glockenseile. Von hier wurde einst geläutet. Die archäologischen Untersuchungen geben leider keinen genauen Aufschluss darüber, ob die Wehrkirche an Stelle einer noch älteren Kirche stand. Jedoch lässt eine Trockenmauer im Bereich des Wehrturmes eine solche Vermutung zu. Sie wird überdies wahrscheinlicher, wenn wir bedenken, dass im Jahre 1266 als erster vorreformatorischer Pfarrer von Harle ein Pleban Sibert genannt wird (der zweite erwähnte Pleban ist Paul Winther am 10. 11. 1501, der 1525 erster evangelischern Pfarrer in Harle war). Sollte die Wehrkirche aus dem Jahre 1370 stammen, so muss es vorher eine Kirche gegeben haben. Sollte die Wehrkirche im 13. Jahrhundert gebaut worden sein, so muss es auch eine Vorgängerkirche gegeben haben. Nur so ist die Anwesenheit eines Plebans zu erklären. Pleban heißt wörtlich: der Leutepriester. Im Mittelalter war damit der Geistliche gemeint, der an einer Pfarrkirche für den wegen fehlender Weihe, wegen Pfründenhäufung oder aus anderen Gründen nicht anwesenden Amtsinhaber die Seelsorge ausübte.

Im Jahre 1492 am Abend des Bonifatiustages wurde dann mit dem Bau des neuen Kirchenschiffes begonnen. Der Bonifatiustag ist der 5. Juni. Im Jahre 1492 war der 5. Juni der Pfingstdienstag, damals der dritte Feiertag. Dazu wurde das Kirchenschiff der Wehrkirche abgerissen. Reste davon wurden bei den archäologischen Untersuchungen gefunden, unter anderem eine wunderschöne Säule, an der noch die roten Farbspuren der Bemalung zu sehen waren. Sie dient jetzt in der Taufkapelle im alten Wehrturm als Altarfuß. Zu Tage förderten die archäologischen Untersuchungen auch fünf Gräber. Das älteste ist ein Kindergrab aus dem frühen 13. Jahrhundert im heutigen Eingangsbereich (damals muss also die Kirche schon gestanden haben). Das zweitälteste Grab befindet sich dort, wo heute der Aufgang zu den Emporen ist. Es ist etwas jünger. Die Knochen waren teilweise nur noch als Kalkspuren im Erdreich zu sehen. Aber das Schädeldach des Toten wies ein kleines kreisrundes Loch auf. Aus der Mitte des 15. Jahrhunderts (zwischen 1440 und 1460) sind die beiden Gräber in der Mitte des Kirchenschiffes. Ein Skelett weist eine Größe von 180 cm auf. Anhand von Münzfunden in beiden Gräbern sind sie zu datieren. Das jüngste Grab ist ebenfalls im Kirchenschiff. Es ist wie ein Gewölbe gemauert und teilweise in den Basaltfelsen geschlagen und birgt den Pfarrer Johann Werner Hassenpflug, der 1743 mit 33 Jahren wohl im Gottesdienst am 1. Weihnachtstag früh um 7 Uhr starb und am 30. 12. in der Kirche beisegetzt wurde. Er hinterließ eine Frau und 3 Kinder, ihr erstes Kind, die Tochter Anna, war schon mit sieben Monaten gestorben. Noch Jahre später erwähnen Jahresrechnungen der Kirchengemeinde ein "Armengeld" für die Witwe Hassenpflug. Sichtbar wird etwas von der materiellen Not der Familien, wenn der Vater als einziger Versorger gestorben war. Von der seelischen Not einer jungen Frau, die ein Kind verlor und jung Witwe wurde, können wir nur ahnen.

In den Urkunden der Jahre 1275 bis 1292 werden oft als Käufer oder Zeugen Männer von Harla oder von Harlon erwähnt. Das bedeutet nicht, dass es in dieser Zeit ein Adelsgeschlecht derer von Harle gegeben habe. Einmal wurden bis ins 13. Jahrhundert nur die Vornamen der Männer aufgeschrieben und ihr Herkunftsort genannt (z. B. Johannes de [von] Harlon; Wernherus de Harlon in einer Urkunde vom 2. Mai 1298 [in crastino Philippi et Jacobi]). Die Nennung des Herkunftsortes diente aber zur Unterscheidung von Männern gleicher Vornamen, weil es noch keine Nachnamen gab. Die entwickelten sich erst langsam aus Berufen, Eigenheiten oder dem Herkunftsort. Zum zweiten findet sich später nirgendwo ein Hinweis auf ein Adelsgeschlecht, wohl aber ist der Nachname "Harle" bis in heutige Zeit geläufig. Noch im ersten Harler Kirchenbuch, das der damalige Pfarrer Eckhard Seidelmann 1657 nach dem dreißigjährigen Krieg begann, werden unter den 46 angeführten Familienvätern zwei Vertreter dieses Namens erwähnt: ein Curt Harlo und sein Sohn Curt Harlo. Eine letzte Erwähnung dieses Namens findet sich im Jahre 1706. Danach hat die Familie Harlo Harle verlassen.

Glücklich sind wir, dass die Kirchenbücher seit 1657 vollständig vorhanden sind, obwohl die wertvollen alten Bücher - 1943 zur Sicherheit nach Felsberg in den Tresor der dortigen Kasse ausgelagert - in den Fluten der Eder schwammen, als die Edertalsperre im selben Jahr durch britische Flieger gesprengt wurde. Aufwendige Restaurierung durch das Archiv in Marburg hat dieses Dokument der Nachwelt erhalten. Die Originale sind der Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich; eine Mikroverfilmung der Kirchenbücher liegt im Archiv der Landeskirche in Kassel jedermann zur Einsicht.

Immer wieder hört man, Harle sei im Jahre 1372 durch einen Rachezug der Sterner zerstört worden. Die Sterner waren ein Bund freier Ritter des hessischen Landes unter Führung der Grafen von Ziegenhain. Während eines Konfliktes hatte der hessische Landgraf Heinrich II. (1328-1376) eine der Sternerburgen im Knüll zerstört. Aus Rache zogen die Sterner in landgräfliches Gebiet und zerstörten mehrere Orte. Ob darunter auch Harle war, ist bisher aus Zeitdokumenten nicht belegt. Wenn es aber so gewesen sein sollte und Harle 1372 zerstört wurde, dann wäre es in der Tat wahrscheinlich, dass die Wehrkirche danach erbaut wurde, um dem landgräflichen Ort Schutz zu geben. Möglich ist auch, dass ein Teil der Wehrkirche brannte: Brandschutt fand sich bei der archäologischen Untersuchung. Dann wäre die Wehrkirche mit dem Wehrturm wieder instand gesetzt worden. Auf jeden Fall finden sich in dem Wehrturm Eichenbalken, die in dieser Zeit geschlagen und eingebaut wurden. Noch älter (13. Jahrhundert) sind die alten Holzjoche: an ihnen hingen die Glocken (jetzt dienen sie als Fußbeine für den Tisch im Ossuarium). Die Daten ergaben sich bei dendrochronologischen Untersuchungen (dabei werden die Jahresringe eines Holzes untersucht; das ergibt eine genaue Bestimmung der Jahre bis etwa 6000 vor Christus). Das in der damaligen Zeit aufblühende Raubrittertum hatte seine Ursprünge in dem wirtschaftlichen Niedergang des 14. Jahrhunderts. Nach einer kurzen Blüte der Landwirtschaft und reger Siedlungstätigkeit, in deren Verlauf viele Orte (Kennzeichen: die Endung ...rode - Hesse-rode) gegründet wurden, kam es um 1317-1320 zu mehreren Missernten. In den nächsten Jahrzehnten trat ein Klimaumschwung ein. Es wurde kälter, die Pest raffte zudem etwa 40% der Bevölkerung dahin. Die folgende Getreideproduktion führte zu einem Preisverfall. Die Ritter als Lehnsherren gerieten wegen geringerer Einnahmen aus dem Zehnten in arge Not, die sie durch Raub wettzumachen suchten. Flurnamen wie "Hahnewinckel" erinnern an diese Notzeiten, ist der Name doch entstanden aus dem Schrei des Hahnes, den die Ritter als Verständigungssignal benutzten, um vorbeiziehende Händler zu überfallen. Und die Flurbezeichnung "Weinbergshecken" erinnert an die Jahre vor dem Klimaumschwung, in denen es wegen des wärmeren Klimas in unseren Breiten möglich war, Weinstöcke anzubauen.

Im Jahre 1409 werden Pfarrer und "Heiligenmeister" (eine Art Kirchenvorstand) von Harle des Raubes (lat.: spolium) etlicher Feldfrüchte auf mehreren Äckern des Klosters Eppenberg (die Kartause bei Gensungen) in der Feldmark von Hebel bezichtigt. Diesen Rechtsstreit gegen die kartäuser Mönche verlieren die Harler.

Im 15. Jahrhundert ist der kleine Ort Harle so sehr gewachsen, dass die Kirche zu klein wurde. So begannen die Harler am Abend des 5. Juni 1492 (Bonifatiustag) mit der Grundsteinlegung des neuen Kirchenschiffes - das alte Kirchenschiff musste abgerissen werden. Eine in den zweiten Stützpfeiler eingelassene Steintafel berichtet in Minuskeln (gotische Kleinbuchstaben):

anno dm in IIII XCII iar uf sanctus bonifacius obent
wart diß kirchen angehaben cu buwen
Anno domini - im Jahre des Herrn - im Jahre 1492

am Abend des heiligen Bonifatius
wurde diese Kirche angefangen zu bauen.

Unbekannt ist das Datum der Kirchweihe (sie gab den Anlass zur Kirchweihfeier, dem Ursprung der Kirmes). Als aber im Jahre 1526 die Reformation in Hessen durchgeführt wurde, wurde Harle als ein Dorf des hessischen Landgrafen Phillipp des Großmütigen evangelisch. Schon 1525 wurde dem Pfarrstelleninhaber Paul Winther nachgesagt, er "predige in reformatorischem Geist". Paul Winther war ein Pfarrer des Überganges. Er war zugleich der letzte katholische Pleban und der erste evangelische Pfarrer in Harle. Ihm folgten bis zum heutigen Tag weitere 27 evangelische Pfarrer in Harle. Ist auch das Datum der Kirchweihe unbekannt, so lässt doch der Zeitpunkt der Grundsteinlegung darauf schließen, dass die Harler Kirche eine Bonifatius - Kirche ist.

Die beiden Glocken in der Harler Kirche wurden in den Jahren 1520 und 1521 von dem Homberger Glockengießer Hans Kortrock gegossen. Die größere (die "Harler Glocke") ist 107 cm hoch und hat einen Durchmesser von 128 cm. Sie hat am Hals folgende, aus 40mm hohen Minuskeln bestehende Umschrift:

anno.dm.xvcxx.ioannes.heisenic
.ale.bese.weter.vor.driben.ich.
hans.kortrog.von.homberg.i.hesen.gos.

Im Jahre des Herrn 1520 - Johannes heiße ich,
alle bösen Wetter vertreibe ich,
Hans Kortrock von Homberg in Hessen goss (mich).

Darunter steht an einer Seite in 10mm hohen unikalen Majuskeln:

meister.hans.kortrog.von.homberg.gos.mich.

Als Trennungszeichen dienen 9 Rosetten, 2 Sterne, 2 männliche Gesichter und einmal das Kortrog'sche Gießerzeichen, die Schafscheere. Die Glocke trägt den Namen des Evangelisten Johannes. Dessen Tag ist der 27. Dezember. Er gilt als Beschützer bei Gewitter (alle bösen Wetter vertreibe ich!).

Die 1521 gegossene kleinere Glocke ist 94 cm hoch und hat einen Durchmesser von 115 cm. Die Bügel der Krone sind verziert. Sie sind wie Taue gebildet. Am Hals steht die folgende, aus 35 mm hohen Minuskeln bestehende Umschrift:

anno. dm . millesimo. quingentesimo. vicesimo. primo.
in. honore. sancti. ciliare.martris.
Anno 1521

zu Ehren des heiligen Kilian, des Märtyrers.

Als Trennungszeichen dienen ein von Strahlen umgebener Christuskopf, ein männlicher Kopf mit einem Heiligenschein, 4 Rosetten und einmal die Schafscheere. Die Glocke trägt den Namen des heiligen Kilian, dessen Namenstag der 8. Juli ist. Er starb als Märtyrer im Jahre 689. Beide Glocken haben sowohl den 30jährigen Krieg als auch beide Weltkriege unversehrt auf dem Kirchturm überlebt und wurden nicht - wir viele Glocken - zu Kanonen umgeschmolzen.

Es ist erstaunlich, dass in einem kleinen Ort wie Harle eine solch imposante Wehrkirche mit zwei solch mächtigen Glocken steht. Seinen Niederschlag hat das nicht zuletzt in der Sage von der Harler Glocke gefunden. Sie geht in ihren Ursprüngen auf einen Konflikt zwischen Harle und Felsberg zurück. Harle war nach 1555 einer der 17 zum Amte Felsberg gehörenden Orte und im Amt der bedeutendste. Wegen Weiderechten auf den Wiesen zwischen Schwalm und Eder kam es zu einem Rechtsstreit, den die Harler gewannen. Das hat sich in der Bildersprache einer Sage niedergeschlagen. In ihr spiegelt sich der Streit um die Huterechte wider in dem Aufeinandertreffen der Schweinehirten aus den beiden Orten. Und der Rechtsstreit erscheint in der Sage im Bild des weißen Pferdes, dem die Augen zugebunden sind. Die weißen Pferde waren unseren germanischen Vorfahren heilige Tiere (im Wappen des Landes Niedersachsen hat sich beispielsweise das weiße Pferd erhalten). Und noch heute wird die Göttin der Gerechtigkeit (Iustitia) mit verbundenen Augen dargestellt, damit sie keine Partei aufgrund des Ansehens und Aussehens bevorteilt: Die Gerechtigkeit ist blind! In der Hand hält die Iustitia eine Waage. Das Hin-und Her des Rechtsstreites, wo sich einmal die Waagschale des einen hebt, dann die des anderen, zeigt die Sage schön im Bild des Schimmels, der zuerst in Richtung Felsberg geht, um sich dann aber nach Harle zu wenden. Selbst heute noch benutzen wir das gleiche Bild, wenn wir von dem Amtsschimmel reden, (der in unseren Tagen aber eher lahm als blind geworden ist). Den Rechtsstreit und den Sieg haben die Harler buchstäblich an die große Glocke gehängt und ins Hessenland hineingetragen, so wie die Glocken eben zu Anlässen von Freud und Leid läuten (und überhaupt waren die Glocken des kleineren Ortes und ihre Kirche ja größer als die von Felsberg).

Die Bedeutung Harles lag auch begründet in der wirtschaftlichen Macht, welche die Harler Mühle dem Ort brachte, waren doch mehrere Orte an die Harler Mühle "gebannt": Dort musste gemahlen werden. Die Harler Erbleihmühle war von 1560 im Besitz des Geschlechtes der Metze und besaß zeitweise drei Mühlräder und eine Ölmühle mit zwei Mühlrädern.

Harle wuchs weiter und hatte 1584 65 Haushalte, das waren etwa 400 Einwohner. So musste die Kirche erweitert werden. Das geschah durch den Einbau von Bänken (vorher stand man während des Gottesdienstes) und durch den Einbau einer ersten reich verzierten Empore im Jahre 1589. Wahrscheinlich wurde im Zuge dieser Maßnahme auch der Eingang im Wehrturm zugemauert und die neue Tür in der Südostwand gebrochen. Zwei weitere Emporen wurden um 1680 und 1736 /1783eingebaut. Beim Einbau der letzten Empore wurden in die Südostwand zwei kleinere Fenster gebrochen, um die Lichtverhältnisse zu verbessern.

Eine Aufstellung der dienstbaren Güter von Harle - der Zins ging unter anderem nach Felsberg, zur Kartause nach Gensungen, nach Homberg, Gudensberg und Neuenstein - nennt 54 Harler Namen, darunter die noch heute in Harle vorkommenden Namen Heimel, Ebert, Schmidt und Metz. In dieser zeit gibt es in Harle viele Kötner (Kleinbauern, die eine Kate -ein kleines Haus- besitzen) und wenig Hubner (Bauern, die über eine oder mehrere Hufen Land verfügen; eine Hufe sind etwa 30 Acker). Aus dem Jahr 1609 sind 50 Harler Haushaltsvorstände namentlich bekannt.

Der dreißigjährige Krieg (1618-1648) bringt viel Unheil. Im Kroatenjahr 1637 wird Harle vermutlich ein zweites Mal zerstört. Der Vernichtung entgehen allein das 1911 abgerissene Wagnersche Haus, das 1614 gebaute alte Pfarrhaus und die Wehrkirche. 1639 gab es in Harle keine Kuh, keinen Ochsen, kein Schwein und keine Schafe mehr, nur noch acht Pferde. Allmählich wurde Harle wieder aufgebaut. Am Anfang des Harler Kirchenbuches gab Pfarrer Seidelmann 1657 eine Aufstellung von nunmehr 46 Haushaltsvorständen, 1693 zählt Pfarrer Braun 61 Haushaltsvorstände.

Im 30jährigen Krieg bleibt auch der Harler Wald vor Übergriffen nicht verschont. Der Homberger Förster und der Obermöllricher Pfarrer gingen eigenmächtig im Harler Wald vor: 1633 fahren sie Holz ab und versuchen, eine Wildschießbahn einzurichten. Die Harler aber verteidigten ihr Recht auf den Wald hartnäckig.

Aufschwund und karge Zeiten wechselten auch weiterhin. Es war aber immer ein Merkmal der dörflichen Bevölkerung, dass sie dem "Mangel" mit "Ausdauer" begegnete. Aber wieder war ein Krieg, diesmal der Siebenjährige (1756-1763), in dem Menschen - wie immer im Krieg - unschuldig leiden müssen. Die Kirchenbücher berichten von mittellosen Soldaten, die in Harle hängen blieben, um eine neue Existenz aufzubauen. Sie erzählen aber auch von der grausamen Art, einen jungen Mann hinzurichten, der sich unerlaubt von der Truppe entfernt hatte, des Krieges müde, um nach Hause zu gehen und bei der Ernte zu helfen. An der Harler Kirche wurde er erschossen. Was geht wohl in Menschen vor sich, die solche Befehle geben, und in denen, die sie ausführen? Und die Kirchenbücher erzählen von zwei Harlern, die an dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg von 1776-1783 teilnahmen. Was sich so schlicht und nach Abenteuer anhört, war in Wirklichkeit die Verschacherung von Menschen - hessischen Landeskindern - durch den Landgrafen an die Engländer. Die bezahlten gut für jeden hessischen Soldaten, die gar nicht gefragt wurden, sie wurden einfach verkauft.

Aus der Mitte des 19. Jahrhunderts liegt eine Beschreibung des Ortes durch den damaligen Bürgermeister vor. Er berichtet unter anderem von 3 Glocken im Harler Kirchturm. Des Rätsels Lösung: die dritte Glocke diente dem Schlagwerk. Im Kirchturm auf dem Läuteboden stand nämlich nachweislich seit 1645 (Reparaturrechnung), vielleicht sogar schon seit der Zeit vor 1618 ein Schlagwerk, dass den Harlern die Stunde schlug. Täglich musste es aufgezogen werden. Im 18. Jahrhundert wurde es umgebaut: Die früher obenliegende horizontal gehende Unruhe wurde an die Seite gelegt und ging jetzt vertikal und damit genauer. An dem Schlagwerk sind die Spuren des Umbaues bis heute zu sehen. Über einen Seilzug wurde ein Hammer bei den Glocken in Bewegung gesetzt. Auch diese Spuren sind im Glockenturm zu sehen. Als in jedem Haus mindestens eine Uhr war, wurde das Schlagwerk vernachlässigt und verrostete. Ende der achtziger Jahre gelang es Meister Ruloff, das Schlagwerk zu restaurieren., ab dem 2. Pfingsttag 1988 schlägt es nach jahrzehntelangem Schweigen den Harlern wieder die Stunde. Es muss jetzt einmal in der Woche aufgezogen werden. Zwei Gewichte, jeweils sieben Zentner wiegend, werden mit etwa 700-750 Umdrehungen im Turm hochgezogen. Und dann geht das alte temperaturempfindliche Schlagwerk mehr oder weniger genau. Während es die Stunden schlägt, läuten die Glocken zu den Gottesdiensten und anderen religiösen Anlässen. Das dreimalige Läuten jeden Tag ist der Rest des einstigen Gebetsläutens, um die Menschen während ihrer Arbeit zum Innehalten zu gemahnen und an die alte religiöse Wahrheit zu erinnern: ora et labora - bete und arbeite: Nur beten und nicht arbeiten ist nichts; nur arbeiten und nicht beten ist auch nichts. 1887 wurde ein neuer Läuteapparat an beiden Glocken angebracht, die jetzt von 2 anstatt von 12 Schuljungen zu läuten waren.

Zwischen 1890 und 1900 wurden zahlreiche Klein-und Kleinstgrundstücke der Harler Flur "verkoppelt" (zusammengelegt). Es entstanden ordentliche Feldwege. 1892 wurde in Harle die erste Darlehnskasse im weiten Umkreis gegründet. 1910 erhält Harle seine Wasserleitung, 1919 wird Harle an die Stromversorgung angeschlossen. Es sind dies die Jahre, da der Ziegenzuchtverein (1909, heute Kulturverein), der Gesangverein (1910), der Sportverein (1919) und die Feuerwehr (1928) gegründet wurden.

Und wieder brachten zwei Weltkriege Leid in Harler Familien: Aus dem Ersten Weltkrieg kehrten 22 Harler nicht zurück. Die nachfolgenden Jahre brachten Aufschwung, Inflation und Massenarbeitslosigkeit und das Dritte Reich, dessen Politik nicht nur unseren Ort spaltet. Im Nachbarort Falkenberg zerstören SA-Männer in der sogenannten Reichkristallnacht (9. November 1938) die Synagoge und dann werden die jüdischen Familien, die auch Harler Familien bekannt waren, vertrieben. Aus dem zweiten Weltkrieg kamen 37 Harler nicht zurück.

Nachdem 1938-1939 die Schwalm begradigt und 1939-1940 im Winter eine feste Holzbrücke durch Pioniere über die Schwalm gebaut wurde und die alte "Spegge" - einen schmalen Steg - ersetzte, wurde Harle 1943 durch die Fluten der Eder aufgrund der Sprengung der Edertalsperre in Mitleidenschaft gezogen. Nach dem Krieg veränderte der Zuzug der Heimatvertriebenen den Ort: Zeitweise wohnten in Harle über 1100 Menschen. In der Harler Kirche wurden nun auch - übrigens bis 1983 - katholische Gottesdienste gehalten. Die Ehen von Evangelischen und Katholischen erfordern von so manchem Harler ein offeneres Verständnis gegenüber einer anderen Konfession. Bis heute sind sich die Mitglieder beider Konfessionen in einer guten und hilfreichen Weise näher gekommen.

Im Mai des Jahres 1954 regnete es in Harle Tag und Nacht: Die Beregnungsanlage hatte ihre Arbeit aufgenommen. Der Juli 1960 brachte ein aus heutiger Sicht bedauerliches Ereignis: Das "alte Backhaus" am Steinweg wurd abgerissen und hinterlässt bis heute einen toten Platz. Einige Veränderungen für Harle brachte das Jahr 1963: Das neue Pfarrhaus wurde fertig, mit dem Bau einer Schleuse und einer neuen Brücke wurde begonnen und am 17. November wurde die Einweihung des Denkmals auf dem Friedhof vorgenommen. Am 16. Juli 1965 schlug der Blitz in den Harler Kirchturm und verursacht einen Schaden von rund 40.000,-- DM. Der Einschlag am 10. Juli 1858 verursachte eine gänzliche Erneuerung des Turmes und Kosten von rund 800 Talern; damals wohnten 610 Harler im Ort, es gab 96 Hausbesitzer.

Am 1. August 1970 wurde die Volksschule Harle aufgelöst. Somit ging eine über 240jährige Schultradition zu Ende. Am 17. Oktober 1892 war die neue Schule in Gebrauch genommen worden, eine zweite Lehrerstelle wurde am 1. Oktober 1902 eingerichtet. Die alte Schule war 1728 unter dem Pfarrer Johann Peter Caul neben der Kirche erbaut worden, dazu musste wohl das Eingangstor der Wehrmauer weichen. Bis 1922 hatten die Dorfpfarrer die Pflicht der jährlichen Inspektion und damit die Oberaufsicht über die Schule. Der damalige Lehrer Johann Conrad Fischer war eine tatkräftige Hilfe. Der erste namentlich bekannte Harler Lehrer ist Johannes Reimann (um 1700). Nach der Auflösung der Harler Volksschule wurde das Schulgebäude von den Harler Vereinen und als Jugendraum für die Jugendarbeit der Kirche benutzt. Am 5. Juni 1999 (Bonifatiustag) übernahm die Kirchengemeinde das Schulgebäude als Gemeindehaus. Es trägt nun den Namen "Justus-Winter-Haus". Justus Winter war in Harle 1497 geboren worden, während der Reformation in Hessen tätig und starb 1557 als Dekan in Rotenburg. So ehren wir mit der Namensnennung einen Harler und entreißen ihn der Vergessenheit.

Am 1. Januar 1974 verlor Harle seine Selbständigkeit und wurde Ortsteil der Gemeinde Wabern.

1970 wurde der Landfrauenverein gegründet. Der Kulturverein erbaute 1973 in Eigenleistung die schöne Küllbergshütte und im gleichen Jahr wurde in Harle der Bläserchor gegründet. 1974 wurde die neue Orgel eingeweiht. Der Sportverein erstellte in Eigenleistung 1974-1975 die Sporthalle, die 1984 erweitert wurde. 1975 wurde die Friedhofshalle eingeweiht. Der 1951 gegründete Anglerverein errichtete 1985-1986 sein Vereinsheim im ehemaligen Schuppen der Raiffeisenkasse; 1983 entstand der Verein "Rot/Weiß - Sport für jedermann", der sich im Jahre 2000 aufgelöst hat.

Ringförmig um die Kirche wächst Harle weiter. Die Kirche aber ist und bleibt die Mitte von Harle. Nachdem in den achtziger Jahren die Kirche neun neue Buntglasfenster erhalten hatte, deren Kosten von 55.000,-- DM allein durch Spenden aufgebracht wurden und die an die alten Buntglasfenster erinnern, wurde die Kirche nach dreijähriger Restaurierung von innen und außen (Kosten von etwa 2 Millionen DM) 1994 in einem Einweihungsgottesdienst dem gottesdienstlichen Gebrauch wieder übergeben. Sie zeigt nun die Ausmalung des 19. Jahrhunderts und an manchen Stellen die darunter liegenden sieben verschiedenen Bemalungen der letzten acht Jahrhunderte. Außerdem birgt sie eine Besonderheit: Durch die Tieferlegung auf ihr ursprüngliches Niveau hat sie nun neben einer verbesserten Akustik im ehemaligen Wehrturm einen Taufraum, der in das Gotteshaus einbezogen ist. Und auf dem Altar steht seit der Johannisnacht 1999 (23. Juni) ein Kruzifix, dass den Gekreuzigten in aller menschlichen Nacktheit zeigt. Es gemahnt uns an die nackte Wahrheit christlicher Verkündigung und christlichen Lebens - und an das Geheimnis unseres Lebens: Nackt kommen wir in die Welt und nackt gehen wir aus der Welt. Dieser heilige Ort ist das, was Martin Luther besang: Ein feste Burg ist unser Gott.